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Wolfgang Ruehl - Der Ikarus-KomplexWolfgang Ruehl
Der Ikarus-Komplex

KEN. Wolfgang Ruehl bewegt sich mit »Der Ikarus Komplex« zwischen einer ebenso erschreckenden wie faszinierenden neurowissenschaftlichen Vision und dem Traum vom Fliegen. In beiden Bereichen kann jemand sehr hoch aufsteigen und um so heftiger abstürzen. Auf den verschwundenen Professor de Jager trifft das alles gleichzeitig zu.

 
 

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Ein geheimes Forschungsprojekt mitten in Mali wird von größenwahnsinnigen Kaderoffizieren aus China gesteuert. Sehr schön von Autor Wolfgang Ruehl beschrieben, übertragen sie das Prinzip der »natürlichen« Genveränderung im Tierreich künstlich auf höher entwickelte Organismen.

Kopflos mitten in Afrika mit Folgen für den Rest der Welt

Lässt sich sogar menschliches Verhalten auf diese Weise steuern? Kann jemand mit gezüchteten Geninformationen am Ende durch ein Nasenspray zu einem Killer umprogrammiert werden? Sind die freigesetzten Informationen bei höheren Lebewesen kontrollierbar, wenn das schon bei Pflanzen nicht möglich zu sein scheint?

Nicht nur Professor de Jager und die Mitarbeiter seines Instituts finden solche Ideen faszinierend. Als de Jager wie vom Erdboden verschwindet, engagiert die Dekanatsleitung deshalb den Privatermittler Trond Faksen. Trond ist im Grunde ein widerlicher Kerl, aber schlau genug um zu erkennen, dass die besorgten Kollegen auch ein inoffizielles Interesse daran haben, ob de Jager gefunden und wie mit seinen Forschungsergebnissen umgegangen wird.

Trond wird für seine Ermittlungen nach Mali reisen müssen, dem Heimatland des genialen, schwulen Automechanikers Swartsman, der containerweise Ersatzteile in Europa kauft, während die Menschen in seiner Stadt spurlos verschwinden. Das heißt, nicht ganz. In der Regel finden sich ihre Leichen ohne die dazugehörigen Köpfe: Mitten in Afrika, wo die Welt normalerweise gar nicht erst hinschaut, findet ein grausiges Experiment mit Menschen und ihren Gehirnen statt.

Was auch immer dort erforscht wird, schon bald werden sich die chinesischen Assistenten des Teams um Professor de Jager als Kopisten in einem Parallel-Labor erweisen. Trond Faksen wird versuchen müssen, Professor de Jager zu finden und nebenher eine Katastrophe von der Menschheit abzuwenden.

Die Geschichte beginnt auf einem vielversprechenden Niveau. Wir erfahren von Wolfgang Ruehl also einiges darüber, wie Ameisen dazu veranlasst werden, sogenannte Prionen, also Eiweißketten mit verhaltensrelevanten Informationen in die Nahrungskette von komplexeren Tierarten zu transportieren. Ließe sich das Prinzip auf Menschen übertragen, könnte man damit deren Gedächtnisleistung steigern oder sie genauso gut zu Killermaschinen machen. Für beides gibt es Interessenten.

Dass solch eine Perspektive schnell zur Obsession, zur Besessenheit, werden kann, lässt sich zumindest vermuten. Wahrscheinlich träumen manche Neurophysiologen tatsächlich von der Verhaltenssteuerung durch eine Manipulation von Genen.

Träume und Obsessionen – das ist die Schnittmenge zum Fliegen und zu Wolfgang Ruehl, der in Köln lebt und sich selbst als Träumer bezeichnet. Seine Kapitel über die Geschichte des Fliegens in »Der Ikarus-Komplex« sind auch unabhängig vom Roman lesenswert: angefangen vom Schneider von Ulm über die »Irren der Lüfte« nach Louis Blériot, der 1909 als Erster den Ärmelkanal überflog und die legendäre Kunstfliegerin Elly Beinhorn-Rosenmeyer (1907-2007) bis hin zu den Raketenbauern, für die es während und nach dem Zweiten Weltkrieg nie senkrecht und niemals hoch genug hinaus gehen konnte.

Was den Forschern ihr Wissensdrang, das ist den Fliegern ihre Leidenschaft, über den Wolken alle Grenzen auszureizen und für die Erweiterung dieser Grenzen sogar das eigene Leben mit auf die Karte zu setzen. Dass sie dabei abstürzen könnten, wie der legendäre Ikarus, als er der Sonne zu nahekam, ist ein Risiko, dass Flieger und Forscher teilen.

Irgendwie verliert die Geschichte hier an Festigkeit. Wolfgang Ruehl riskiert meiner Meinung nach bei seinem erzählerischen Flug sehr viel, vielleicht sogar zu viel. Die Schädel der Toten und die Prione werden zur Nebensache, der schwule Automechaniker aus Mali bleibt vor allem als einer der besten »Fitter« in Erinnerung, obwohl es in anderen Teilen Westafrikas technisch gleichermaßen bewanderte Mechaniker gibt – historisch gesehen sogar besser begründbar.

Swartsman wird für die Verknüpfung des »Ikarus-Komplexes« zu den Kopflosen und Traditionalisten in seinem schwer gebeutelten Dorf sorgen müssen. Als Trond Flaksen vor Ort Witterung aufnimmt, werden die Chinesen unter Commander Wu schon bald gezwungen sein, ihren eigenen Kopf zu retten. Und Professor de Jager wird mühsam lernen, wie weit er den Bogen seiner Leidenschaft für die Forschung und das Fliegen unter diesen Bedingungen tatsächlich spannen kann.

»Der Ikarus-Komplex« beginnt als spannender Wissenschaftsroman. Dass Wolfgang Ruehl seine Geschichte vor allem nach Afrika verlegt, erinnert an die Erregerübertragung von Affen, Schafen und Rindern auf Menschen. Von seiner Geschichte der Fliegerei bleibt schon bald vor allem die Besessenheit übrig, die Forscher und Flieger für ihre jeweiligen Themen entwickeln. Der kulturanthropologische Ausflug mit Swartsman in den »informellen Sektor«, die Welt der Automechaniker Malis, ist der dritte Strang, dem wir mit Wolfgang Ruehl folgen.

Jedes dieser Themen wäre für sich einen Roman wert gewesen. So bleibt ein bisschen Verwirrung über unabhängig wirkende Fäden, die sich nach über 400 Seiten dann doch noch dankbar zu einer gemeinsamen Geschichte verbinden.


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