Michael Mary
Liebe will riskiert werden
KEN. »Liebe will riskiert werden« beginnt mit dem Seufzer einer Klientin: »Was mir fehlt … ist jemand, der mir das Gefühl gibt, die Frau für ihn zu sein, die einzige Frau. Ja, mir fehlt ein Mann, der mich fühlen lässt, die wichtigste Person in seinem Leben zu sein.« – Ist das tatsächlich der Generalschlüssel zu einem neuen Beziehungsmodell?
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Autor Michael Mary berät seit 35 Jahren Paare und Singles in Beziehungsfragen. Sein Fazit nehme ich hier vorweg: »Die neue Liebe entspricht unseren veränderten Lebensverhältnissen und bezieht genau daraus ihren Sinn – Chance und Risiko halten sich die Waage.«
»Du kannst alleine leben, aber nicht alleine lieben«
Für ein modernes Beziehungsbuch hätte ich mir den aktuellen Beziehungsstatus von Michael Mary gewünscht, so wie viele moderne Menschen ihn zum Beispiel auf Facebook kundtun. Manchmal wird ein Modell im Umfeld einer Biografie nachvollziehbarer, sie relativiert den verallgemeinernden Charakter und lässt Platz für Gegenmodelle.
Der weltweit renommierte Beziehungsexperte John Gray (* 1951) beispielsweise trennte sich 1984 von seiner ersten Frau. Ab 1990 reflektierte er seine Beziehung in Bestsellern über Männer vom Mars und Frauen von der Venus. 1986 war er wieder verheiratet. John Gray ist es offenbar bis heute, und er hat drei Kinder. Seine Exfrau Barbara De Angelis (* 1951) hat ebenfalls erfolgreich Selbsthilfebücher für Paare geschrieben. Sie war bis 1995 insgesamt fünf Mal verheiratet.
Seitdem denke ich, es gibt unter Beziehungsexperten auch viele Experten dafür, wie man eine Beziehung beendet. Immerhin nennt Michael Mary auf seiner Homepage seine »damalige Frau«, die psychologische Psychotherapeutin und Diplom-Psychologin Henny Nordholt. Er entwickelte als eigene Methode die »erlebte Beratung«, veröffentlichte 34 Bücher und führte 2008 und 2010 für den NDR und den SWR etliche Paarberatungen im Fernsehen durch.
»Der moderne Mensch ist ein Selbst geworden. Er hat ein Selbstbewusstsein, er ist selbstverantwortlich, er muss selbstbestimmt sein, er muss sich selbst ständig optimieren, um sich selbst zu verwirklichen«, sagt Michael Mary. Und zumindest ich glaube, dass er nach seinem Modell selbst ein moderner Mensch ist, weil ihm all das so selbstverständlich klar zu sein scheint.
»Selbst« und »Ich« sind Begriffe, die in der Beziehung heute besonders groß geschrieben werden. Für eine gelungene Partnerschaft, die Michael Mary als »Ganzliebe« bezeichnet, reicht heute weder das Erleben im Bett, die pflichtbewusste gemeinsame Versorgung der Kinder und die Unterstützung der persönlichen Entwicklung im Beruf und privat alleine aus.
Heute wollen die Menschen etwas anderes als einen »AMEFI«, eine/n für alles für immer, wie Michael Mary es nennt, sondern eine emotional/leidenschaftliche Verbundenheit. Erst dann scheinen moderne Paare in der wirklichen Liebe, der »neuen Liebe« angekommen zu sein. Sie stellt den Einzelnen statt das Gemeinsame in den Mittelpunkt: »Du sollst mich lieben: So wie ich bin!« Oder »Liebe mich: Aber nur um meiner selbst willen!« Das ist etwas anderes als ein gemeinsames Miteinander, »bis dass der Tod uns scheidet«.
Ich glaube, dass Menschen in gelingenden Beziehungen schon immer einen Zugang zu »Ich« und »Selbst« hatten. Sie wertschätzten es und den anderen und vergaßen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten ebenfalls nicht.
Beziehungsideale haben ihre Geschichte durch die Zeit, wie es auch in »Liebe will riskiert sein« bestätigt wird. Während die Ritter in die Schlacht zogen, so lernten wir seinerzeit in der Schule, suchten die Burgfräulein sich Liebhaber für romantische Begegnungen. Die Minnelieder sind so voll davon wie heute die Schnulzen der Schlagergrößen. Viele Wohlhabende gingen Beziehungen aus strategischen Gründen ein, meistens um ihre Macht oder den eigenen Landbesitz zu vergrößern. Warum also sollte heute das »Selbst« und das »Ich« nicht auch eine andere Art der Beziehung fordern?
Ja, warum eigentlich sollte sie?
Nach »Liebe will riskiert werden« will der moderne Mensch heute intensive Beziehungen statt Dauer, Lebendigkeit statt Sicherheit, und statt miteinander verschmelzen zu wollen, sucht er die Begegnung mit dem Gegenüber. Erst durch eine gewisse Distanz fühlt er sich wahrgenommen. Und natürlich will er wie die Klientin oben für den anderen trotzdem der oder die Einzige sein.
Immerhin wiederspricht Michael Mary hier dem Soziologen Hartmut Esser, der 2003 im Magazin Focus jungen Paaren für eine Langzeitbeziehung empfahl: »Kein Ehevertrag! Kein Zögern! Geht für den anderen erkennbar ein Risiko ein, damit er sieht, dass man sich aufeinander verlassen kann! Zeugt mehrere Kinder! Investiert in gemeinsames Eigentum! Startet gemeinsame Projekte! Verbringt viel Zeit miteinander! Am besten im Rahmen vieler gemeinsamer Freunde.«
Die Verpflichtung zu gemeinsamen Investitionen in eine Lebens- und Versorgungsgemeinschaft und starke Abhängigkeiten sollen nach dem Vorschlag Hartmut Essers den Preis für eine Trennung so sehr in die Höhe treiben, dass die Partner zusammen bleiben. Alles andere wäre zu teuer.
Nach Michael Mary könnte der Preis fürs Zusammenbleiben jedoch weit höher sein als der für eine Trennung: »Essers Ratschläge … ignorieren die Bedeutung der Individualität. Vor allem junge Menschen werden sich nicht lange an solch ein Gefühlzurückstellungsprogramm halten können. Sie sind nicht in der Lage, ihre Karriere, ihre individuellen Belange und ihre Gefühle gegenüber einer Beziehung so weit zu opfern wie die Bedingung der Dauer das erfordern würde.«
Ihnen fehlten zudem die psychische Struktur und die Bereitschaft, sich als Individuum der Beziehung unterzuordnen. Sie seien nicht bereit, ihre Individualität geringer zu werten als die Paarbeziehung.
Vielleicht wertet eine Paarbeziehung die Individualität der Beteiligten jedoch auch auf ...
Begegnung statt Beziehung? Wäre Beziehung durch immer wieder neue Begegnungen mit dem Gleichen/mit der Gleichen nicht genauso möglich? Selbst nach Michael Mary ist Sex nach Absprache mit guten Freunden (»friends with benefits«) so wenig erfüllend wie die Verpflichtung zu einer Partnerschaft, weil man den Ehevertrag so geringschätzt wie Hartmut Esser in seinem Focus-Beitrag.
Mindestens seit Margaret Meads (1901-1978) wohlgemeinten wie ethnologisch fragwürdigen Schriften gibt es bei Beziehungen wohl kaum etwas, was nicht denkbar wäre. Wahrscheinlich hat jede Zeit bestenfalls bevorzugte Beziehungsmodelle, während es alle anderen Modelle parallel dazu ebenfalls gab. Eines also zu empfehlen, wie die Ganzliebe mit emotional/leidenschaftlichen Anteilen sowie viel »Selbst« und »Ich«, hat also Gründe. Ein Grund könnten der Trend zu unverbindlichen, aber intensiven, lebendigen Begegnungen sein.
Ich finde, dass Intensität und Dauer, Lebendigkeit und Sicherheit, miteinander Verschmelzen und die Begegnung mit dem einzigartigen Gegenüber auch mit dem gleichen Partner stattfinden können. Langfristig und immer wieder. Wie in einem schwanengleichen Tanz. – Vielleicht hätte das »Goldene« Ehepaar letztens dazu einiges zu sagen gewusst.
»Liebe will riskiert werden« – Wer jemandem seine Liebe eingesteht, riskiert immer auch einen Korb. Keine Beziehung muss dabei von Dauer sein. Aber auch heute sollte sie es sein dürfen, ohne dass jemand deshalb zum »Establishment« gehören muss (»Wer zweimal mit der gleichen pennt …«). Oder dass ihm die besten Kumpel vorwerfen, er schätze den einen Baum höher ein als den ganzen Wald. Ein Ehevertrag kann als Druckmittel gegen den Partner genutzt werden, aber er kann auch die materielle Basis einer wirklichen Beziehung schützen und eine Trennung erleichtern. Fragen Sie dazu jedoch weder Ihren Arzt und Apotheker noch einen Psychotherapeuten, sondern einen fähigen Notar!
Ich finde nach »Liebe will riskiert werden«, das ich mit dem alten Beziehungsmodell gut zurechtkomme. Wenn ich Beziehungsfragen habe, würde ich mich gerne mit dem hellwachen »Goldenen« Ehepaar von letztens unterhalten, über Trennungen mit einem Trennungsspezialisten und über Singles mit jemandem, der selbst immer Single war oder es mit viel »Ich« und »Selbst« immer wieder geworden ist.