Martin Rücker
Ihr macht uns krank
KEN. Schade, dass Martin Rücker von der Geschichte überholt wurde. »Ihr macht uns krank« hätte die ehemalige Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner und ihre Entscheidungen betroffen. Die faulen Tomaten treffen jetzt andere. Das Prinzip bleibt, und damit müssen sich auch die neuen Ökos in der Ampel an Martin Rückers Erfahrungen messen lassen.
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»Ihr macht uns krank« ist eine Fleißarbeit. Martin Rücker (* 1980) schrieb für Zeitungen und die Deutsche Presseagentur (dpa) und war Leiter der Presseabteilung von »foodwatch«. Seine Themen: irreführende Werbung, gesunde und sichere Lebensmittel. Er leitete die Deutschland-Sektion der Verbraucherorganisation vier Jahre und trug dazu bei, den Lebensmittelskandal um die Wurstfabrik Wilke im hessischen Twistetal mit drei Todesfällen aufzuklären.
Versagt der Staat in der Ernährungspolitik?
Jetzt also knapp 340 Seiten über »die fatalen Folgen deutscher Ernährungspolitik und die Macht der Lebensmittellobby« - so der Untertitel zu seinem Buch aus dem Econ-Verlag.
Schade, schade, dass dem Buch durch den Wechsel in Berlin der Wind aus den Segeln genommen wird. Cem Özdemir, der neue Landwirtschaftsminister und zudem ein Grüner, hat zumindest die Chance verdient, nach 16 Jahren CDU-Regierung unter Angela Merkel alles besser zu machen.
Aber ändert sich an den Prinzipien des Lobbyismus wirklich etwas in einer Legislaturperiode mit möglicher Verlängerung? Werden deswegen mehr Amtsärzte eingestellt? Und werden es wieder welche sein, die von den Schlachtbetrieben für Kontrollen selbst ausgesucht und auch bezahlt werden? Werden endlich die Tricksereien ausgehebelt, mit denen selbst in Bioprodukten Zutaten vertuscht werden, die darin nichts zu suchen haben?
Wird es endlich verbraucherfreundliche Ernährungs-Ampeln geben, die sich die Unternehmen nicht selbst zuschreiben? Und werden die Behörden bei Rückrufaktionen endlich schneller handeln, bevor Unternehmen sie als Beleg für ihre »Gewissenhaftigkeit« noch in der Eigenwerbung aufwerten?
Martin Rücker hat tief geschürft für »Ihr macht uns krank«. Leider sind die Toppolitiker längst verschwunden, denen sein Protest gelten könnte. Julia Klöckner muss sich für ihre Glyphosat-Politik und das Schreddern der männlichen Küken nicht mehr rechtfertigen. Andreas Scheuer nicht für seine Verschwendung von Steuergeldern und die Erlaubnis von E-Rollern, die im Rhein verrosten. Und Jens Spahn nicht mehr für die Milliarden, an denen sich Nutznießer der Corona-Pandemie, Maskenpolitiker und Testzentren für dieses Leben satt gegessen haben.
Trotzdem darf man nach »Ihr macht uns krank« wütend sein. Martin Rücker streitet darin für mehr Aufmerksamkeit als Verbraucher. Nur der Markt habe die Macht, etwas zu verändern. Das allerdings setzt ein geschärftes Bewusstsein für das eigene Verhalten voraus. Und zwar in allen Lebensbereichen.
Um an Martin Rücker weitere Fragen anzuschließen: Müssen wir in halbleeren Fliegern nach »Malle« und verteidigen diese Mehrbelastung der Umwelt auch noch mit dem Recht auf Freiheit nach den Lockdowns? Muss man wirklich in Kreuzfahrtschiffen im Kleinstadtformat in das Zentrum von Venedig? Muss es dieses Jahr wieder ein neues Handy sein? Und ist ein Elektroauto, in dem auch nur einer sitzt, wirklich ökologisch, wenn dafür genauso viel Boden versiegelt wird wie für den Verbrenner?
Zumindest bleibt Martin Rückers Buch noch eine Weile aktuell und eine Denkschule. Ich gebe zu, dass er damit seinen Lesern auch den Spaß an Dingen nimmt, die sie vielleicht noch immer als selbstverständliches Konsumentenrecht sehen. Die super hygienisch verpackte Schnittwurst sieht harmlos und lecker aus. Das Schwein oder Rind, das dafür nur wenige Minuten nach dem Abstechen am Fließband ausgeweidet und in der Leibesmitte durchgesägt wird, geht uns jedoch ebenfalls etwas an. Erst recht, wenn Menschen dafür unter Bedingungen tätig sind, für die wir selbst uns jederzeit zu schade wären.